Artikel in der "Marie": Mein Akku ist defekt

Ab heute kann mein Bericht über ME/CFS, welcher in der Mai/Juni-Ausgabe (#50) der Straßenzeitung Marie erschienen ist, online gelesen werden. Entweder hier (Seite 21-22) oder gleich hier:


Mein Akku ist defekt

Sebastian Lenz (29, Weiler) leidet unter einer eher unbekannten Krankheit: dem chronischen Erschöpfungssyndrom. Seine innere „Batterie“ lädt nicht mehr richtig auf. In Vorarlberg gibt es Schätzungen zufolge 800-1600 Erkrankte. Anlässlich des Internationalen Gedenktags am 12. Mai hat der junge Vorarlberger seine Geschichte für uns aufgeschrieben.

Text: Sebastian Lenz


Vor mehreren Jahren begannen meine großen gesundheitlichen Probleme. Ich war häufig erschöpft, hatte heftige Kopfschmerzen und so viele grippale Infekte, wie sonst niemand in meinem Bekanntenkreis. Meine Blutbilder waren unauffällig. Ärzte vermuteten, dass Allergien (Heuschnupfen und Hausstaub) meine Beschwerden verursachen würden und empfahlen mir dementsprechende Maßnahmen. Leider ohne großen Erfolg. Phasenweise ging es mir immer wieder für wenige Tage gut, doch oft war mein Zustand so schlecht, dass ich nur mit Schmerzmitteln, aufputschenden Getränken und viel Willensstärke aktiv sein konnte. So quälte ich mich jahrelang durch den Alltag. Ich fühlte mich wie ein Wrack und niemand schien mir helfen zu können. Mein Zustand wirkte aussichtslos auf mich. Es war ein Albtraum.



Erst im Sommer 2019 kam der Wendepunkt. Durch einen glücklichen Zufall erfuhr ich von einem alten Bekannten von einer Krankheit, die mir bis dahin fremd gewesen war: chronisches Erschöpfungssyndrom bzw. ME/CFS (siehe Infobox). Wir hatten früher gemeinsam im Fußballverein gespielt. Er erzählte mir, dass er an ME/CFS erkrankt sei und auch ich davon betroffen sein könnte. Kurze Zeit später reiste ich extra nach Wien, um mich von einem Neurologen untersuchen zu lassen. Diagnose: ME/CFS! Diese Erkenntnis war eine Erleichterung für mich. Nach all den Jahren hatte ich endlich eine gute Erklärung für meine Symptome. Ursache ist in meinem Fall vermutlich eine Autoimmunreaktion. Genauer lässt sich das leider nicht sagen, da diese Krankheit noch zu wenig erforscht ist.



Bei ME/CFS ist es das Wichtigste, innerhalb der körperlichen und geistigen Grenzen zu bleiben, um Zustandsverschlechterungen zu vermeiden. Sport oder sonstige Überlastungen führen zu grippeartigen Symptomen am nächsten Tag. Diese Verschlechterungen können für Tage anhalten, bei anderen ME/CFS-Betroffenen sogar für Wochen. Inzwischen hat sich mein Zustand dank sparsamem Umgang mit meinen Kräften, der gezielten Einnahme von Supplementen (u.a. für den Energiestoffwechsel) sowie der Unterstützung von Familie, Freunden und Partnerin weitestgehend stabilisiert, wenn auch auf niedrigem Niveau. An guten Tagen kann ich z.B. zweimal für 5 bis 10 Minuten langsam spazieren gehen.



ME/CFS wird von Betroffenen gerne mit einem kaputten Akku verglichen, der nicht mehr richtig lädt. In meinem Fall lädt er nur mehr bis ca. 20 Prozent und mit dieser Energie gehe ich dementsprechend vorsichtig um. Jede Aktivität kann für mich ein Risiko darstellen, wenn ich über meine Grenzen gehe. Auch so unscheinbare Dinge wie Spaziergänge, Arbeiten am PC oder intensive Gespräche können eine Verschlechterung auslösen. Es hat Monate gedauert bis ich herausgefunden habe, was ich alles gefahrlos machen kann.



Sehnsucht & Hoffnung

Ich würde mich gerne für Tierrechte und Klimaschutz einsetzen, mein Philosophie-Studium abschließen, Sport machen, die Beziehung zu meiner Freundin pflegen, usw. Die meisten dieser Aktivitäten sind für mich nur mehr stark eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. Den Großteil meiner verbliebenen Energie verwende ich dafür, mehr über ME/CFS zu lernen und mich an die Situation anzupassen. Es ist ungewiss, ob ich je wieder ein halbwegs normales Leben führen kann.

Es stimmt mich zuversichtlich, dass ich im Laufe dieses Jahres mit einer Immunglobulin-Therapie starten kann, die bei einigen ME/CFS-Patienten schon zu einer Verbesserung geführt hat. Außerdem wird es voraussichtlich in den nächsten Jahren zu wichtigen Fortschritten bei der Erforschung von ME/CFS kommen. Im Gegensatz zu Österreich investieren andere Länder wie Australien oder Kanada schon in diesen Bereich und haben eigene Anlaufstellen für Patienten.


In Österreich sind ca. 25.000 Menschen von ME/CFS betroffen (0,2 bis 0,4% der Gesamtbevölkerung). In Vorarlberg müsste es demnach ca. 800-1600 Erkrankte geben. Leider scheint ME/CFS bei den meisten Ärzten noch unbekannt zu sein, obwohl es seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung G93.3 anerkannt ist. Daher warten Betroffene mitunter jahrelang (!) auf eine richtige Diagnose, die ihre grippeartigen Symptome, bleierne Erschöpfung und Zustandsverschlechterungen nach Belastung erklärt.


Wer noch Zweifel an der Echtheit und den gravierenden Folgen von ME/CFS hat, kann sich z.B. Erfahrungsberichte auf www.cfs-hilfe.at durchlesen. Was Betroffene dort erzählen, berührt und schockiert. Ärzte glauben ihnen nicht, sie werden psychologisiert oder man rät ihnen, einfach mehr Sport zu betreiben, was bei Menschen mit ME/CFS genau das Falsche ist und ihren Zustand weiter verschlechtern kann. Die Versorgungslage für ME/CFS-Patienten scheint österreichweit sehr schlecht zu sein.


Darum möchte ich an dieser Stelle einen Appell anbringen. Liebe Ärzte, bitte informiert euch über ME/CFS! Ihr könnt vielen Menschen großes Leid ersparen, wenn ihr ihnen erklärt, dass ihre Beschwerden von dieser Krankheit verursacht sein könnten. Ich habe jahrelang gebraucht, um die richtige Diagnose zu erhalten. Es waren Jahre voller Frustration, Verzweiflung und Leiden. Sorgen wir dafür, dass Menschen von ME/CFS erfahren und endlich die Hilfe bekommen, die sie schon längst verdient hätten.


Infobox

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom bzw. chronisches Erschöpfungssyndrom. Dabei handelt es sich um eine schwere Multisystemerkrankung. Sie wird meist mit Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen verwechselt. Hauptsymptom und Erkennungsmerkmal ist eine Zustandsverschlechterung nach Belastung.



Weitere Informationen:

cfs-hilfe.at

Sebastians Blog: meincfstagebuch.blogspot.com

Kommentare